Ich freue mich, dass so viele Menschen in der Piratenpartei bereit waren, Zeit zu investieren, um einen Kongress wie die PiratinnenKon zu gestalten. Ich halte die bei dem Kongress besprochenen Themen für wichtig und bin überzeugt, dass die Ergebnisse die Beteiligten als Personen und die Piratenpartei als Ganzes weiterbringen werden.
Was ist „Queer“ eigentlich
Trotzdem kritisiere ich einzelnes an der #PiratinnenKon. Statt der expliziten Kritik jedoch etwas zu dem, was „Queer“ eigentlich ist. Denn daraus erschließt sich die Kritik dann von selbst, wie ich hoffe.
Was alle Lesenden verstehen sollte, ist, dass queer nicht nur für schwul, lesbisch oder ein modernes „gay“ steht, sondern für jede Ausgrenzung aus „normal“. Also auch bisexuelle oder andere Begehrensformen [1], die dem heteronormativen Normal widersprechen, der gesellschaftlichen Orientierung an heterosexuellen Beziehungen als Norm und Ideal. Lediglich Denkfaulheit oder falsch verstandene Hippness hat dazu geführt, dass sich „queer“ vor allem im deutschen Sprachraum als Synonym für „schwul/lesbisch“ durchgesetzt hat.
Erfunden wurde „queer“ in den 80er Jahren in den USA, von der Act-Up-Bewegung während der AIDS-Krise, als Kampfbegriff und als Verweigerung, sich auf eine eindeutige Identität festzulegen zu wollen. [2] Ins Deutsche lässt sich queer vielleicht am ehesten mit „schräg“ übersetzen. Nur dass hier niemand auf die Idee käme, von „schräger Theorie“ oder „schräger Politik“ zu sprechen. Einen politisch-kritischen Unterton besitzt der Begriff „queer“ nämlich nur selten, wenn er in der Subkultur auftaucht.
Aus Queer-Sicht ist die Vorstellung in Frage zu stellen, es gäbe naturgegeben genau zwei Geschlechter, die im „Normalfall“ durch ihr Begehren aufeinander bezogen sind. Aus dieser Norm wird auf gewisse Funktionen und Eignungen geschlossen (zum Beispiel Kinder zu bekommen und aufzuziehen). Und bei dieser Norm müssen wir fragen, welche Menschen sie ausgrenzt, an den Rand drängt und dabei ihre Körper und Psychen verletzt.
Gegenentwurf Queer
Queer geht über das tradierte Rollenverständnis hinaus. Queer begreift Geschlecht als Konstrukt, das Körper, Sexualität und soziale Geschlechterrollen miteinander verknüpft.
Die Komponenten „Mann“ und „Frau“, gesellschaftliche Orientierung an heterosexuellen Beziehungen als Norm und Ideal und Rollenverteilung gehören zusammen und haben sich in historisch-sozialen Prozessen zum Geschlechtsbegriff verdichtet, auch wenn in Deutschland die beiden letzten Punkte in den vergangenen Jahren rechtlich aufgeweicht wurden. Insgesamt sind diese Pole als Norm fest etabliert und haben sich tief in gesellschaftliche Verhältnisse, Denk- und Gefühlsstrukturen eingegraben.
Über diese Norm werden im Zusammenspiel z.B. mit einem Rasse- oder Volksbegriff Hierarchien hergestellt und reproduziert, die Einzelnen und Gruppen den Zugang zu gesellschaftlichen Möglichkeiten reguliert. Normabweichungen wurden und werden oftmals sozial nicht toleriert und als Krankheit dargestellt. Ganz zu schweigen von den vielfältigen Ausgrenzungen im sozialen Umfeld, auf der Straße, in der Arbeitswelt usw., die von unbewusst-versteckt bis offen gewalttätig reichen.
Queer stellt einen Gegenentwurf zur gesellschaftlichen Orientierung an heterosexuellen Beziehungen als Norm und Ideal, der Heteronormativität, dar. Das Infragestellen von Heteronormativität erfordert immer auch Kämpfe um die Sichtbarmachung nicht-heterosexueller Lebensentwürfe als auch die Organisation von Interessen.
Queer ist gelebte Normkritik
Im Gegensatz zu anderen, z.B. zu einzelnen feministischen Schulen, streitet Queer-Politik nicht für die Installation „besserer“ oder „neuerer“ hegemonialer Normen. Queer ist gelebte Normkritik.
Anders als frühere Emanzipationskämpfe, wie die der Frauen- oder der Schwulenbewegung, verweigert sich Queer einer Festschreibung auf einen Körper (Frau) oder eine sexuelle Identität (schwul). Neben den „klassischen“ Kämpfen, abweichende sexuelle Orientierungen vor Diskriminierung zu schützen und gleiche Rechte einzufordern, enthält Queer-Politik eine weitergehende Kritik an herrschenden Normalitäts- und Identitätszwängen. „Queer“ bedeutet nicht zwangsläufig Geschlecht auflösen zu wollen; doch ein weitergehender Anspruch, als nur Anerkennung für die eigene (geschlechtliche) Lebensform zu bekommen, sollte schon dabei sein.
Einigen sollte alle Queer das Streben nach einer Gesellschaft, die real post-gender ist.
Post-Gender und Cyborgmanifesto
„Post-Gender“ ist nicht, wie oft in der Piratenpartei gedacht, die Verneinung der Differenz von „Mann“ und „Frau“, sondern die Überwindung derselben. Wer akzeptiert, dass Geschlechter soziale Kategorien und Zuweisungen sind, kann darüber nachdenken, die kulturelle Prägung, die „Geschlecht“ ausmacht, zu überwinden.
Donna Haraway bringt die Bedeutung von „post-gender“ für Queer im Cyborgmanifesto (1995), das sie 1984 schrieb, schön auf den Punkt: „Einige Differenzen sind spielerisch; einige sind Pole von welthistorischen Systemen der Unterdrückung. ‚Erkenntnistheorie‘ handelt davon, den Unterschied zu kennen.“ [3] Das Cyborgmanifesto beschreibt die Vision einer Post-Gender-Gesellschaft als Überwindung des Rahmens von Sex und Gender.
Queer zu sein heißt, zuende gedacht, nicht mehr in die traditionellen Konzepte von Körper, Geschlecht und Begehren zu passen.
Diese Vorstellung wird im Cyborgmanifesto philosophisch untermauert. Das Cyborg ist das Geschöpf einer Post-Gender-Welt, Hybrid aus Mensch und Maschine, welche die Grenzen zwischen natürlich/künstlich, innen/außen, normal/pervers oder männlich/weiblich zusammenbrechen lässt. Das Cyborg verwischt diese scheinbaren Gegensätze, denn es befindet sich in einem Zustand, der jenseits dieser Gegensätze liegt.
An den Anfang des Cyborgmanifesto setzt Haraway die Frage: „Warum sollte unser Körper an unserer Haut enden?“ [3]
Queer offener und inklusiver
Daran anschließend stellt sich die Frage: Wieso sollen immer nur zwei Pole möglich sein? Erscheint nicht vielmehr eine Gesellschaft wünschenswert, die sich von Polen verabschiedet und für geschlechtliche Selbstbestimmung jenseits der zweigeschlechtlichen Logiken öffnet? Wenn Mensch diese Frage mit „Ja“ beantwortet, muss der nächste Schritt die Förderung der Idee des Erreichens einer Gesellschaft, die „post-gender“ ist, sein, und nicht der Beschluss, die Idee zu verwerfen, weil sich Deppen des Begriffs bemächtigt haben.
Queer ist gelebte Distanzierung vom Maskulinismus und solidarische Kritik an feministischen Projekten. Feminismus und Queer sind keine Gegensätze; in der Praxis gehen sie Hand in Hand.
Ich persönlich empfinde Queer als offener und inklusiver, weil feministische und LGBTQI-Themen und –Menschen Hand in Hand gehen.
Queer stellt den Versuch dar, die nominative Sicht von biologischem (sex) und sozialem (gender) Geschlecht zu überwinden und zu verflüssigen.
Beyond Gender oder eine postgender world, also ein Leben jenseits des Geschlechts ist für Queer eine erreichbar und erstrebenswert Perspektive. Mensch könnte auch sagen: Wir finden das gut. Wir streben das an.Wir wollen das. Wir kriegen das.
Ich danke @bastianhaas @t_bb_ @Panaschieren @ingwerbaer1 @acid23 @chaosrind und besonders @stoffeldearund @Ulan_ka für Korrektur, Kritik, Anregungen und Lektorat des Posts und eure Unendliche Geduls mit mir. Ihr seid Toll.
[1] sexuellem Begehren/desire
[2] Was ist Queer
[3] Cyborgmanifesto